“X began to go dark across Brazil on Saturday…”, schreibt die New York Times – es gibt keine deutsche Übersetzung dafür, die es ähnlich gut beschreibt: Eine Plattform verabschiedet sich aus dem Leben der Brasilianer, die sich, wie AP berichtet, “von der Welt getrennt fühlen“. Brasilien war bis dato einer der größten Märkte für X-Twitter, mit rund 22 Millionen Nutzenden, aber das ist (zunächst) vorbei, seit Elon Musk sich der Anordnung des Richters Alexandre de Moraes widersetzte. Der hatte – nach längerem Streit um Hass und Desinformation – zuletzt verlangt, dass X-Twitter einen gesetzlichen Vertreter im Land benennt, nachdem der Dienst vor zwei Wochen seine Büros in Brasilien geschlossen hatte. Nun ordnete er an, die Plattform in Brasilien zu blockieren.
Warum ist das auch für uns von Bedeutung? Ein Milliardär entscheidet über die Kommunikation in einem riesigen Land – Kommunikation, die eine Voraussetzung ist für das Gelingen einer Demokratie. Die Auseinandersetzung in Brasilien zeigt, wie problematisch die Rolle der monolithischen Plattformen für unsere Gesellschaften ist. Musk widersetzte sich den in Brasilien geltenden Gesetzen – und ein Richter ordnete schließlich an, dass der Dienst nicht mehr erreichbar sein darf. Das ist konsequent, zeigt aber auch, in welchem Dilemma der Richter steckte: Er konnte nur das Äußerste anordnen – die Blockade eines Dienstes, den Millionen Menschen nutzen – weil dessen Besitzer Gesetze wiederholt missachtet.
Was passiert jetzt in Brasilien? Viele Medien (unter anderem AP oder The Verge) berichten nun, dass die Nutzenden vor allem zu Bluesky wechseln. Eine halbe Million neue Nutzende hatte der Dienst allein bis Freitagabend in Brasilien gewonnen. Bluesky nutzt das selbst entwickelte ATProtokoll (wie Mastodon ActivityPub), ist aber streng gesehen keine gute Alternative (mehr dazu hier).
Warum wechseln die Menschen zu Bluesky, aber nicht zu Mastodon? Sie tun offenbar beides, aber Mastodon scheint in der öffentlichen Berichterstattung eine geringere Rolle zu spielen. Collectifission kritisiert auf Mastodon (übersetzt): “Ich bin etwas überrascht, dass die joinmastodon-Website keinen Abschnitt hat, in dem brasilianische Nutzer willkommen geheißen werden.” Jetzt sei genau der Zeitpunkt, an dem mehrere zehn Millionen Nutzende eine neue Heimat suchen, meint Collectifission, und er hat Recht.
Bluesky macht es besser als Mastodon und ergreift die Gelegenheit beim Schopfe, Nutzende aus Brasilien willkommen zu heißen.
Profitiert Mastodon denn gar nicht? Doch, auch Mastodon verzeichnet deutliche Zuwächse. Am 31. August (so muss es in dem Trööt von Mastodon-CEO Eugen Rochko gemeint sein, den er am 1. September um 00.59 Uhr veröffentlichte) kamen auf dem Server mastodon.social 4200 Menschen aus Brasilien hinzu – auch weitere Server verzeichnen offenbar Wachstum.
Es scheint so, als wäre der Zuwachs genau zum Monatswechsel auch deutlich in den Mastodon-Nutzendenzahlen von FediDB zu sehen (obwohl ich nicht verifizieren kann, dass sie aus Brasilien stammen):
Strich drunter, was willst Du uns sagen? Das, was in Brasilien passiert, sagt viel über die Rolle von Plattformen in Gesellschaften und über damit verbundene Mechanismen:
- Eine Plattform kann von heute auf morgen verschwinden, verstummen, mitsamt persönlichen Followern, Inhalten, und Menschen und Institutionen ihre Möglichkeit nehmen, zu kommunizieren – vom Bundeskanzler zur Polizei zu Dir oder mir.
- Monolithische Plattformen wie X-Twitter, Instagram, LinkedIn oder TikTok erlauben es nicht, Accounts zu migrieren, wenn sie verstummen. Wir sind ihnen ausgeliefert. Das allein spricht gegen sie.
- Protokolle wie ActivityPub verbinden Dienste und erlauben, mit Accounts umzuziehen – sie sind das Gegenteil von monolithischen Plattformen, die sich und uns einschließen.
- Wenn Plattformen verschwinden, suchen Menschen Alternativen. Diese Alternativen müssen in diesem konkreten Moment aktiv, bekannt, relevant sein, damit sie genutzt werden.
- Es reicht nicht, Alternativen erst dann aufzubauen, wenn Menschen bereits nach ihnen suchen.
- Mastodon muss solche Momente stärker für sich nutzen. Wir brauchen mehr Menschen, die Momente erkennen und Angebote schaffen. Das kann Mastodon-CEO Eugen Rochko mit seinem kleinen Team nicht allein – Mastodon und das Fediverse sind wir alle.