Monat: August 2024

  • Warum Journalisten nicht mehr ums Fediverse herumkommen

    Warum Journalisten nicht mehr ums Fediverse herumkommen

    Anfang August kippte das Bundesverfassungsgericht die Teile der Wahlrechtsreform der Ampelkoalition. Für die alternativen Netzwerke Bluesky und das Fediverse war das mit einem kleinen Sieg verbunden. Warum?

    Deutscher Bundestag, Bild: Times, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

    Was hat das Fediverse mit Journalismus zu tun? Ich hole mal weit aus: Im Dezember 2008 saß ich in einem Schulungsraum in Hamburg und richtete zum ersten Mal meinen X-Twitter-Account ein. Vorn stand Claus Hessling (ewiger early adopter), der mir und Kolleg*innen beizubringen versuchte, wie das Netzwerk funktionierte. In den folgenden Jahren habe ich gelernt, wie wichtig das Netzwerk für meine Arbeit sein würde: Vor allem bei der Berichterstattung über Demonstrationen (darunter den Hamburger G20-Gipfel) war X-Twitter nicht nur ein Kanal, um Informationen weiterzugeben, sondern auch eine unverzichtbare Quelle: Als Reporter konnte ich nicht überall sein, aber andere X-Twitter-Nutzer halfen mir mit ihren Nachrichten, den Überblick beispielsweise über Proteste zu behalten. X-Twitter war damals für mich unverzichtbar als Arbeitswerkzeug, und zwar im Dialog, keine Einbahnstraße. Aber das ist, wir wissen es, vorbei.

    Was ist heute unverzichtbar? Für mich wird das Fediverse immer wichtiger, aber das hat auch etwas mit der richtigen „Crowd“ zu tun: Vor allem auf Mastodon finde ich viele Menschen, die sich auch mit meinen Herzensthemen (Datensicherheit, alternative Plattformen, Big-Tech-Regulierung) beschäftigen. Aber nach und nach weitet sich der Themenkreis im Fediverse, so weit, dass Journalismus aus meiner Sicht um das Fediverse nicht mehr herumkommen kann.

    Was ist passiert? Am 30. Juli verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass die Wahlrechtsreform, für die vor allem die Ampelkoalition eingetreten war, der Ampelkoalition in Teilen verfassungswidrig ist. Einen Tag zuvor aber war die Urteilsbegründung bereits online beim Gericht abrufbar – ein Zufallsfund, den der Nutzer mq868q auf Bluesky und Mastodon veröffentlichte.

    Ein echter Scoop, veröffentlicht auf Mastodon und Bluesky. Bis erste Medien die Nachricht entdeckten, dauerte es etwas mehr als eine Stunde – eine lange Zeit. Mq86mq hat den Weg, den seine Recherche nahm, nachverfolgt, und schreibt, dass die Nachricht es erst dann in die etablierten Medien schaffte, als ein Nutzer sie auf Twitter teite:

    Der X-Tweet, der schließlich die ersten Journalist*innen erreichte, ist danach dieser hier vom Deutsch-Kanadier Philip Le Butt, einem niedersächsischen SPD-Politiker und DGB-Rechtsschutzsekretär:

    Hätte mq86mq direkt einen X-Tweet abgesetzt, wäre die Nachricht mutmaßlich binnen Sekunden in die Online-Ausgaben der Medien gespült worden. Das zeigt, wie wenig Journalist*innen das Fediverse auf dem Schirm haben.

    Wer steckt hinter dem Scoop? Mq86mq, der übrigens nicht mit vollen Namen bekannt werden möchte, gab dem SPIEGEL am Tag nach seinem Coup ein Interview, in dem er nicht nur erklärte, wie er an die Urteilsbegrünung gelangte.

    Generell halte ich viel von Transparenz. Ich habe kurz erwogen, es für mich zu behalten und mir so privat auch für die Zukunft einen Wissensvorsprung zu sichern. Ein richtiger Schaden ist nicht entstanden, ich bekam aber eine Menge Aufmerksamkeit.

    Quelle: Interview bei Der Spiegel Online

    Wie hat das Bundesverfassungsgericht reagiert? Ein wenig so, wie man es vom höchsten deutschen Gericht erwarten würde: weder locker noch lässig. Der Fund der Urteilsbegründung vor der eigentlichen Veröffentlichung war dem BVG sogar eine eigene Pressemitteilung wert:

    „Das Bundesverfassungsgericht bedauert, dass offenbar bereits am gestrigen Tag eine Version der schriftlichen Urteilsgründe vorübergehend über das Internet öffentlich zugänglich war. Es gibt derzeit Anhaltspunkte dafür, dass dies eine technische Ursache hatte. Der Direktor beim Bundesverfassungsgericht ist damit beauftragt, die genauen Umstände aufzuklären und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die einen solchen Fall in Zukunft verhindern.“

    Quelle: Bundesverfassungsgericht

    Strich drunter: Was willst Du uns sagen? Journalist*innen, die ihre Arbeit ernst nehmen, kommen am Fediverse nicht mehr vorbei. Nicht nur, weil X-Twitter und andere Netzwerke unsere Demokratie gefährden. Sondern eben auch, weil im Fediverse relevanter Nachrichtenwert entsteht. Es ist für Journos nicht ganz so einfach wie es einmal war – es reicht nicht, nur Twitter, Facebook oder TikTok im Blick zu haben: Die Zahl der Quellen hat deutlich zugenommen. Aber das ist eben der Job von Journalist*innen – viele Quellen im Blick zu behalten und uns herauszufiltern, was wissenswert ist. Dieses Mal stand es eben auf Mastodon und Bluesky.

    Gibt es nicht schon viele Journalist*innen im Fediverse? Einige Journalisten sind in der Tat schon da: Du findest sie zum Beispiel bei Mastodir oder über verifiedjournalists.org. Aber viele fehlen noch. Also: We hope to see you there.

    Hinweis: Dies ist eine bearbeitete Version des ursprünglichen Textes, in die ich die Informationen von mq86mq zum „Weg der Nachricht“ (siehe Kommentare) eingearbeitet habe. Zudem habe ich einige Formulierungen nach Kritik in den Kommentaren geschärft (erkennbar durch Streichungen).